… in der Ringvorlesung “Migration. Wanderungsbewegungen vom Altertum bis in die Gegenwart” am 22. Juni 2016

Ein Beitrag von Nina Diezemann, veröffentlicht im Blog migration.hypotheses.org

 

Eine neue Betrachtungsweise der jüdischen Diaspora und des Begriffs der Diaspora im Allgemeinen schlägt Daniel Boyarin, Professor für Kultur des Talmud an der University of California in Berkeley, in seinem Vortrag am 22. Juni im Rahmen der Ringvorlesung “Migration. Wanderungsbewegungen vom Altertum bis in die Gegenwart” vor. Boyarin zufolge seien Beschreibungen der jüdischen Diaspora, nicht zuletzt durch die Juden selbst, oftmals falsch; eine andere Konzeption der jüdischen Geschichte und Kultur könnte zu einem umfassenderen Verständnis der jüdischen Diaspora und der Theorie der Diaspora beitragen.

Der Blog migration.hypotheses.org ergänzt die Ringvorlesung “Migration. Wanderungsbewegungen vom Altertum bis in die Gegenwart”. Die Journalistin Antje Lang-Lendorf und  Nina Diezemann geben dort ausführliche Zusatzinformationen zu den Vorträgen und den Vortragenden.

Die jüdische Diaspora habe lange als Idealtypus der Diaspora im weberschen Sinne gegolten, sagt Boyarin. Dieser Ansatz sei von Theoretikern wie Stuart Hall infrage gestellt worden; der in Großbritannien lehrende Kulturtheoretiker und Soziologe, der selbst aus der Karibik stammt, hatte argumentiert, die jüdische Diaspora sei grundsätzlich von anderen Formen der Diaspora in der Moderne zu unterscheiden. Der griechische Begriff “Diaspora” entstand im 6. Jahrhundert v. Chr. für jüdische Siedlungen in Babylonien und Ägypten. Die jüdische Diaspora wurde aber seit dem 19. Jahrhundert für weitere religiöse oder ethnische Gruppen verwendet, die fern eines usprünglichen Heimatlandes zerstreut oder als Minderheit leben.

Mit seinem Buch A Traveling Homeland (“Ein reisendes Heimatland”), das 2015 erschien, hatte sich Boyarin bereits gegen einen Begriff der Diaspora gewandt, der allein die Aspekte des Verlusts von Heimat und die Zerstreuung einer Gemeinschaft in alle Welt in den Mittelpunkt stelle. Stattdessen hob er hervor, dass kulturelle Identität gerade durch Migration wachse.In einem Interview mit der Berliner Zeitung sagte Boyarin:

“Gerade weil das Judentum an so vielen unterschiedlichen Orten war, hat es so vieles aufnehmen können.”

Jüdische Diaspora in der Antike: Relief einer Menora in der Synagoge von Ostia. Quelle: Setreset CC BY-SA 3.0 (Wikimedia Commons)

Jüdische Diaspora in der Antike: Relief einer Menora in der Synagoge von Ostia. Quelle: Setreset CC BY-SA 3.0 (Wikimedia Commons)

Boyarin versteht in seinem Buch, das sich vor allem mit der Spätantike und dem Mittelalter beschäftigt, den Talmud als Manifest der Diaspora, als einen Text, der die jüdische Identität in der Diaspora prägt und so zum “reisenden Heimatland“ wird.
Daniel Boyarin ist Hermann P. and Sophia Taubman Professor of Talmudic Culture an der University of California, Berkeley. 2012/13 war er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Er hat über Sex im Taldmud (Carnal Israel: Reading Sex in Talmudic Culture, Berkeley: University of California Press, 1993) und das frühe Christentum (Border Lines: The Partition of Judaeo-Christianity. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2004) geschrieben. Zu seinen Publikationen gehören außerdem Socrates and the Fat Rabbis. Chicago: University of Chicago Press, 2009 und Daniel and Jonathan Boyarin: Powers of Diaspora: two Essays on the Relevance of Jewish Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press, 2002.

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